Der Titel dieses Vortrags geht auf einen spontanen Vorschlag von Hans Hermann Jansen (Abtei Marienmünster) zurück. Er greift die einzelnen Themen auf, die Max Hundelshausen aus Medebach seinen Klangcollagen in dem Zyklus „Compassion“ gegeben hat, englisch: compassion, spanisch: compasión, zu deutsch: Mitgefühl, Mitleid. Ja, „Compassion“, Mitgefühl kann den Weg weisen, die Prämonstratenser und ihren Gründer, Norbert von Xanten, im Innersten zu verstehen. So beginne ich mit dem
Prolog: Licht in dunkler Nacht
Vor 900 Jahren wurde in Prémontré bei Laon im nördlichen Frankreich durch Norbert und seine ersten Gefährtinnen und Gefährten der Prämonstratenserorden gegründet. Der Gründungstag war das Weihnachtsfest des Jahres 1121.
Leitbild des Ordens war die erneuerte urkirchliche Gemeinde, also bescheidenes Leben in Gütergemeinschaft nach dem Beispiel der Apostel, und verbunden damit eine Zuwendung zur armen Landbevölkerung. Dieses Leitbild entfaltete in der damaligen europäischen Jugend große Anziehungskraft. Innerhalb eines Jahrhunderts entstanden von Spanien bis Schweden, von Irland bis Ungarn fast 600 Klöster, die sich für den Weg Norberts begeisterten. Positiv wollten Prämonstratenser und Prämonstratenserinnen Gesellschaft und Kirche mitgestalten – in einer Zeit, die von jahrzehntelangem Streit zwischen Königen und Päpsten um die Ernennung der Bischöfe geprägt war.
Norberts Gründung war Teil einer Reformbewegung, die sich auch auf den vier Laterankonzilien in Rom (in den Jahren 1123, 1139, 1179 und 1215) Gehör verschaffte und mit jeweils eigenen Akzentsetzungen in weiteren Ordensgründungen wie den Kartäusern und den Zisterziensern zum Ausdruck kam.
Durch Norberts Herkunft vom Niederrhein kam sein Orden sehr früh nach Westfalen. Nur fünf Monate nach der Gründung von Prémontré übergab Graf Gottfried von Cappenberg seine nördlich von Lünen gelegene Burg zur Umwandlung in das erste Stift der Prämonstratenser in Deutschland. Elf Jahre später kamen aus Cappenberg zwölf Männer und einige Frauen des Ordens, um an zwei durch den Edelherrn Rudolf von Steinfurt gestifteten Kapellen das Prämonstratenserkloster Clarholz mit dem kleinen Frauenkonvent in Lette zu gründen. Nach weiteren Jahrzehnten, im letzten Drittel desselben 12. Jahrhunderts, fasste die von Norbert ausgegangene Bewegung in Arnsberg Fuß, in Wedinghausen, in Oelinghausen und in Rumbeck.
Norbert war ein nachgeborener Sohn der hochadeligen Familie von Gennep. Gemäß damals üblichem Brauch wurde er schon als Kind für den geistlichen Beruf bestimmt. So kam er jung in das Stift St. Viktor in Xanten. Hier, am kirchlichen Mittelpunkt des unteren Niederrheins, erhielt er eine klassische Bildung und wurde Kanoniker. Man lebte innerhalb der Stiftsimmunität, hielt das Chorgebet, besaß privates Eigentum und pflegte einen adligen Lebensstil. Beurlaubungen waren möglich. Norbert nutzte sie, um den Kölner Erzbischof zu begleiten und am Italienzug König Heinrichs V. zur Kaiserkrönung teilzunehmen. Dabei entstanden Kontakte, auf die er später zurückgreifen konnte. Er bekam aber auch die Spannungen zwischen Königtum und Papsttum mit, was ein inneres Abrücken vom König auslöste.
Im ersten Kapitel seiner Lebensgeschichte, seiner „Vita“, wird im Stil der Bekehrung des Apostels Paulus geschildert, wie Norbert – damals schon um die 35 Jahre alt – auf einem heimlichen Ritt nach Vreden, angetan mit feinen, seidenen Gewändern, in ein Unwetter gerät, wie vom Blitz getroffen vom Pferd stürzt und eine mahnende Stimme hört: „Lass’ ab vom Bösen und tue das Gute!“ (Psalm 37,27). Norbert hatte damals noch keine höhere Weihe empfangen und hätte, ebenso wie die hochadeligen Stiftsdamen von Vreden, noch heiraten können, wenn es ihren Familien aus politischen Gründen opportun erschienen gewesen wäre. Da wurde er vom hohen Ross seiner Selbstsicherheit heruntergerissen.
Er nahm eine Auszeit bei den Benediktinern in Siegburg, empfing die Priesterweihe, kehrte nach Xanten zurück, merkte aber, dass ihn das dortige Stiftsleben nicht mehr erfüllte. So suchte er Orientierung bei einem Einsiedler und dann in der Kommunität von Klosterrath bei Aachen, wo alle auf Privateigentum völlig verzichteten, körperlich arbeiteten und nächtliches Stundengebet hielten. In einem längeren Prozess der Bekehrung – er lebte jetzt an einer seiner Familie gehörenden Kapelle auf dem Fürstenberg 2 km südöstlich des Stiftes Xanten – lernte er, nicht mehr sich selbst, sondern Gott in den Mittelpunkt zu stellen und offen zu sein für die Bedürfnisse der Menschen. Täglich feierte er die heilige Messe. Er kleidete sich wie Johannes der Täufer. Seine Predigten fanden Gehör. Schließlich zog er als Prediger über Land, was Ärger beim Klerus erregte. Auf einer Synode musste er sich rechtfertigen. Er galt als vagabundierender Priester, trage ein Mönchsgewand, obwohl er doch von seinem Vermögen lebe.
Norbert berief sich auf seine Bevollmächtigung in der Priesterweihe („Empfange das Amt und sei Verkünder des Wortes Gottes!“) und auf die Aussendung der Apostel durch Jesus. Er gab jetzt sein Kanonikat in Xanten ganz auf und schenkte seine Eigenkirche auf dem Fürstenberg der Abtei Siegburg. Dann trat er, so heißt es im vierten Kapitel der „Vita“, „im Namen Gottes die Pilgerreise an“.
Es ist der Spätherbst des Jahres 1118. Barfuß wandert er nach Saint-Gilles in der Camargue, wo er Papst Gelasius II. trifft. Schriftlich gestattet ihm dieser, „frei und ungehindert zu predigen“. „Durch knietiefen Schnee und schneidendes Eis“ zieht er zurück ins nördliche Frankreich. „Wenn nun“, so fährt die „Vita“ fort, „das Volk in Scharen zu ihm strömte und bei der Feier der Messe sein Mahnwort hörte über die Buße, die man tun muss, und über die Hoffnung auf das ewige Heil…, dann schöpften alle Freude aus seiner Gegenwart. … Staunen erregte seine neue Art zu leben, nämlich auf Erden zu leben und nichts von der Erde zu wollen“ (cap. 6).
Nun zu den Themen der Klangcollagen von Max Hundelshausen. Die ersten beiden stelle ich um und behandle zunächst das
Herz: Was uns zusammenhält
Norbert schlossen sich in diesem Jahr 1119 erste einzelne Gefährten an. Im folgenden Winter kümmerte sich der Bischof von Laon, Bartholomäus de Joux, ein entfernter Verwandter seiner Mutter, um ihn. Er bot ihm mehrere Plätze zur Bleibe an. In der Osterwoche des Jahres 1120 fiel die Entscheidung für die abseits gelegene Kapelle in Prémontré. Doch schon bald nahm Norbert seine Wanderpredigten wieder auf.
Ihm und denen, die ihm folgten, ging es um ein Leben nach Art der Apostel. Ungehindert von Privatbesitz wollten sie Christus als Jünger nachfolgen, „pauperes Christi“, Arme Christi werden. Was die Apostelgeschichte aus den Anfängen des Christentums berichtet, wirkte in der feudalen Gesellschaft ihrer Zeit als starke Alternative: „Alle, die gläubig geworden waren, hielten zusammen und hatten alles gemeinsam. Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und aßen miteinander in Freude und Einfalt des Herzens“ (Apg 2,44.46), „Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von seiner Habe sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam“ (Apg 4,32).
Im folgenden Jahr begeisterte Norbert in Köln 30 Männer und Frauen, Kleriker und Laien, für die „vita apostolica“, für ein Leben nach Art der Apostel. Er nahm sie mit nach Prémontré und vereinte sie „mit den anderen, die er schon vorher gehabt hatte, und versorgte sie morgens und abends mit dem Wort des Heils und ermahnte sie mit tröstlichen Reden.“ Unter den Klerikern, die ihm gefolgt waren, gehörten viele wie er selbst seit Kindheit dem Stand der Kanoniker an. So „gab er endlich den Befehl, die Regel anzunehmen, die der hl. Augustinus für die Seinen bestimmt hatte. Das apostolische Leben nämlich, das er mit seiner Predigttätigkeit angenommen hatte, wünschte er jetzt möglichst genau so zu leben, wie es seines Wissens dieser heilige Mann in der nachapostolischen Zeit geordnet und erneuert hatte. Unter dieser Regel schrieben sie sich am Weihnachtstag zu Prémontré alle einzeln und aus freien Stücken ein als Bürger der Stadt seliger Beständigkeit“ (cap. 12).
Die Regel des heiligen Augustinus ist die älteste Regel für christliche Gemeinschaften im Abendland. Im Herbst 388, dem Jahr nach seiner Taufe, kehrte Augustinus in seine afrikanische Heimat zurück. In Mailand hatte er das Leben christlicher Gemeinschaften kennengelernt; er hatte vor, es in seiner Heimat einzubringen. Auf seinem Erbsitz in Tagaste richtete er ein Kloster ein. Dieser Kommunität gab er eine kurze Regel. Ein paar Jahre später ergänzte er sie, nachdem ihn der Bischof von Hippo 391 zum Priester geweiht hatte. Augustinus wollte das gemeinschaftliche Leben auch als Priester weiterführen. Der Bischof schenkte ihm ein Gartengrundstück vor der Stadt, das der Kirchengemeinde gehörte. Augustinus ging es aber nicht um ein zurückgezogenes klösterliches Leben, sondern um eine ideale Verwirklichung christlichen Lebens. So beginnt denn „seine“ Regel mit dem Satz: „Zu allererst sollt ihr einmütig zusammenwohnen, wie ein Herz und eine Seele auf dem Weg zu Gott. Denn war das nicht der entscheidende Grund, weshalb ihr euch zum gemeinsamen Leben entschlossen habt?“ Dann folgen die Bestimmungen über das gemeinsame Eigentum, über das Beten zu den festgesetzten Stunden, über Ernährung und Fasten usw. Diese Regel verbindet gemeinsames Gebet und Gottesdienst mit tätiger Zuwendung zu den Menschen in Predigt, Unterricht, Mission und Seelsorge. Nach dieser Regel leben die Prämonstratenser.
Die Lebensform der Prämonstratenser stellte die herkömmlichen sozialen Strukturen in Frage. Norberts Orden war eine Gleichstellungsbewegung. Wie in der Urkirche sollte es bei ihnen keine Standesschranken geben. Für ein Leben, das die Standesschranken überwand, entschied sich Gottfried von Cappenberg, als er 1122 seine Burg Norbert übergab, damit sie zum Kloster wurde. Er trank mit seinen ehemaligen Hörigen aus demselben Becher und verrichtete niedrigste Arbeiten wie das Reinigen des Aborts. Später diente er in Ilbenstadt den Armen und Kranken. In ihnen sah er Christus leiden, stellte sich in ihren Dienst, wusch ihnen die Füße und wurde selbst krank. Mehrfach macht die „Vita Godefridi“ deutlich, er habe sich danach gesehnt, durch einen demütigen, sich selbst gegenüber schonungslosen Lebenswandel ins Paradies zu gelangen. Schon am 13. Januar 1127 ist Gottfried im 30. Lebensjahr in Ilbenstadt verstorben.
Alle frühen Stifte der Prämonstratenser sind als Doppelklöster gegründet worden. Beide Konvente, jener der Männer und jener der Frauen, lebten in völliger Gütergemeinschaft unter der Leitung des Propstes. Vorsteherin des Frauenkonvents war eine vom Propst bestimmte Priorin. Die Wirtschaftsführung lag bei einem Provisor. In der frühesten Redaktion der prämonstratensischen Bräuche („consuetudines“ von 1139) ist ein Abschnitt über die Kanonissen enthalten, was zeigt, dass sie zur regulären Konzeption eines Stiftes gehörten. Auch die Selbstbezeichnung der frühen Häuser der Prämonstratenser als „ecclesia“, so etwa „Clarholtensis Ecclesia“, deutet an, dass sie ihre Gemeinschaft von Männern und Frauen, von Klerikern und Laien als vollgültige Ortskirche ansahen. Noch in späterer Zeit, als die Prämonstratenserinnen Cappenberg und das dortige Niederkloster verlassen hatten und im Kloster Oberndorf bei Wesel ansässig geworden waren, heißt es in einer Urkunde: „Die Brüder von Cappenberg und die Schwestern von Wesel sind eine Gemeinschaft in Christus („unum sunt in Christo collegium“).
Geist: gelehrt und gesegnet
Norbert selbst und die vielen Geistlichen, die sich ihm anschlossen, hatten eine gute, manche eine hervorragende Ausbildung erhalten. Anders war das bei den Laien, die ihm folgten. Nicht alle wollten als Laienbrüder in den Stiften leben. Manche, vor allem auch Adelige, sollten zu Chorherren ausgebildet werden. Dazu musste ihnen Lesen und zumindest rudimentär Latein beigebracht werden. Nur mit einigem Aufwand konnten aus Ungebildeten Gebildete gemacht werden, so Graf Gottfried von Cappenberg und sein Bruder Otto, die in Prémontré ausgebildet und zu Akolythen geweiht wurden. Auch viele Schwestern der Prämonstratenser lernten lesen und schreiben. Mädchen, die in die Gemeinschaften gegeben wurden, erhielten von ihnen Unterricht.
In den Osten, nach Magdeburg, folgten Norbert ab 1126 zahlreiche hochgebildete Geistliche. Einer von ihnen war Anselm, den Norbert 1129 zum Bischof von Havelberg weihte. Nach Norberts Tod reiste Anselm 1136 im Auftrag Kaiser Lothars III. (reg. 1125- 1137) an den byzantinischen Hof nach Konstantinopel. Auf Bitten von Papst Eugen III. hat er 1149, also im Abstand von 13 Jahren, aus dem Gedächtnis die damaligen ökumenischen Dialoge wiedergegeben.
Grundlegendes Thema war die Frage nach Einheit und Verschiedenheit im Christentum. Während es anderen Kopfzerbrechen bereitete, konnte Anselm positiv damit umgehen. Ihm war bewusst: „diversa, sed non adversa“, Unterschiede sind keine Gegensätze.
Anselm konnte die Einheit über die Unterschiedenheit hinweg erkennen. So lehrt er: Es ist der eine heilige Geist, der in unterschiedlichen Menschen wirkt. Die Kirche ist nicht unveränderlich, sie entwickelt sich in der Zeit. Anselm sah eine besondere Leistung seines Förderers Norbert darin, auf originelle Weise das Leitbild der „vita apostolica“ empfohlen zu haben.
Wie die monastischen Orden pflegten auch die Prämonstratenser das Medium der Schrift. Ende des 13. Jahrhunderts wird in Wedinghausen eine Schule erwähnt, die auch Externen offen stand. Aus der Zeit um 1230 bzw. 1320 sind zwei Ritualbücher erhalten, die liturgische Handlungen bei Prozessionen, Weihen und Einkleidungen beschreiben. Das Glanzstück des Wedinghauser Skriptoriums ist eine zweibändige Bibel, die der Kanoniker Lodhewicus um 1220 schrieb und illuminierte. Im Spätmittelalter scheint es in Wedinghausen auch eine Buchbinderei gegeben zu haben.
Wie anziehend das Leben der Klostergemeinschaft in Cappenberg wirkte, zeigt sich an der Lebensgeschichte eines jungen Mannes aus der jüdischen Gemeinde in Köln. 1106/07 geboren, war Juda ben David halewi der Sohn eines Paares, das die furchtbare Verfolgung überlebt hatte, zu der es 1096 durch die Predigten Peters von Amiens im Zusammenhang mit dem ersten Kreuzzug gekommen war. Aufgrund einer geschäftlichen Beziehung seiner Eltern zu Egbert, dem vormaligen Kölner Domdekan, seit 1127 Bischof von Münster, kam Juda an dessen Hof, wo er 20 Wochen blieb. „In dieser Zeit verkündete der gute Oberhirt seiner Gewohnheit gemäß recht oft das Wort Gottes. Ich aber, von jugendlicher Neugierde getrieben, gesellte mich der Schar jener Gläubigen bei… Dort hörte ich einen wahren Schriftgelehrten im Reich Gottes, der es verstand, aus dem Schatze Neues und Altes hervorzuholen, das Neue durch das Alte tief zu begründen und das Alte Testament zum Neuen in die rechte Beziehung zu bringen… Solches und Ähnliches hörte ich den Bischof um so begieriger und lieber sprechen, da ich mich gut erinnerte, jene Dinge, die er aus dem Alten Testament vortrug, oft in den hebräischen Büchern gelesen zu haben.“
Auf einer Visitationsreise Egberts lernte Juda Cappenberg kennen. Dass man dort ohne Beachtung der Standesunterschiede auf gleicher Stufe miteinander lebte, beeindruckte ihn. War hier nicht Jesaja 11,6 erfüllt: „Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt bei Böcklein“? Die jüdische Gemeinde in Köln bemerkte nach seiner Rückkehr Judas innere Veränderung. Sie stellte ihn vor die Alternative: Heirat oder Synagogenausschluss. Aber nach drei Monaten Ehefreuden meldeten sich seine religiösen Wünsche zurück. Über Worms und Mainz reiste er zu den Augustinerchorherren nach Ravengiersburg. Dort bereitete er sich auf die Taufe vor, die ihm dann im Kölner Dom gespendet wurde; dabei nahm er den Namen Hermann an, vielleicht aus Dank gegenüber Erzbischof Hermann von Hochstaden, der seinen Eltern 1096 das Leben gerettet hatte.
„Hermannus quondam Judaeus“ ist 1129/30 in Cappenberg eingetreten, legte die Profess als Prämonstratenser ab, lernte in fünf Jahren Latein und wurde schließlich 1137/38 zum Priester geweiht. Das „Büchlein von seiner Bekehrung“ könnte er in den Anfangsjahren des zweiten Kreuzzuges (1147/48) verfasst haben. Seinen Lesern schildert er darin, als wie wunderbar von Gott geführt er seinen Weg erfahren hat. Freundlichkeit und Zuneigung von Christen habe ihn zur Kirche geführt; denn, so
versichert er, nicht alle Christen behandelten die Juden wie tote Hunde.
Tun: Worte und Taten
Anselm von Havelberg hat in einem apologetischen Brief die Lebensform der Prämonstratenser und aller Regularkanoniker als getreue Nachfolge der Apostel verteidigt – gegen den damaligen Abt von Huysburg, der eine Höherwertigkeit des monastischen Lebens behauptete. Jesus selbst, so Anselm, habe aktives und kontemplatives Leben vereint; immer wieder zog er sich zu Gebet und Meditation in die Einsamkeit zurück, im Alltag aber wirkte er als Lehrer für die Menschen und vollbrachte Wunder zur Heilung der Kranken.
Im Titel unserer Ausstellung klingen diese beiden Komponenten an: Zeit und Welt gestalten. Zeit steht für die kontemplative, Welt für die aktive Dimension. Zeit bedeutet Heiligung des Tages durch das Stundengebet und die tägliche Eucharistiefeier, Heiligung der Woche im Rhythmus des biblischen Schöpfungsberichtes, Heiligung des Jahres durch Abbildung der Heilsgeschichte von der Messias-Erwartung Israels über die Inkarnation des Gottessohnes, seine Passion und Erhöhung bis zur Wiederkunft und Vollendung.
Welt steht für die aktive Dimension. Tatsächlich haben die Prämonstratenser die Umwelt ihrer Lebensorte gestaltet. Zu jedem Stift gehörten Laienbrüder, Konversen. Ohne sie hätte sich die Wirtschaft niemals so erfolgreich entwickeln können. Die Statuten des Ordens von 1140 und 1153 bestimmten, dass auf Einkünfte aus Zöllen und Steuern, auf Abgaben Dritter, auf Unfreie und auf Einnahmen aus der Seelsorge zu verzichten sei. In den Mittelpunkt der Klosterwirtschaft rückte die Eigenerzeugung. Sie war auf die Erzielung von Überschüssen ausgerichtet, die am Markt abgesetzt werden konnten. Diesem Zweck dienten einerseits der Ausbau von Wirtschaftshöfen, die mit neuen, rationellen Methoden arbeiteten und hohe Ertragssteigerungen ergaben, und andererseits die Anlage von Stadthöfen, wo sich die Klosterprodukte absetzen ließen.
Die Konversen leisteten alle landwirtschaftlichen und handwerklichen Arbeiten. Weitgehend ihre Leistung war der Aufbau der Stifts- und Klosteranlagen mit den Kirchen, Kreuzgängen, Klausurbauten, Werkstätten, Schulen und Spitälern und im Außenbereich Höfen und Mühlen, Äckern, Forsten und Teichen.
In Oelinghausen lassen sich vier Wirtschaftszweige unterscheiden: Landwirtschaft mit Ackerbau (Getreide), Viehzucht (Milch und Fleisch) und Gartenbau (Gemüse und Obst), Wasserwirtschaft mit Fischerei in Fließgewässern und Fischzucht in Teichen, Forstwirtschaft mit Holzeinschlag als Heizquelle und Köhlerei mit Holzkohle als Energieträger für höherhitzige Produktions- und Verarbeitungsschritte in der Eisen
und Metallverhüttung sowie der Glaserzeugung; schließlich die Montanwirtschaft über und unter Tage mit Steinbrüchen zur Bruchsteingewinnung, Tagebau auf Metallen und Bergbau in Grubenanlagen. Eine Aschenhütte diente zur Herstellung von Pottasche, die als Reinigungs- und Waschmittel für den Klosterhaushalt unentbehrlich war. In der Ziegelei wurden Ziegelsteine, Dachziegel oder auch Tongefäße für den täglichen Gebrauch gefertigt.
In Clarholz lässt sich durch den Vergleich der Bullen Papst Eugens III. von 1146 und Papst Gregors IX. von 1231 eine Vermehrung der Wirtschaftshöfe des Klosters („curtes“, „curiae“, Grangien) von zwei auf sechs feststellen. Zwei waren vom Stifter Rudolf von Steinfurt geschenkt worden, der Osthof und der Westhof. Vier kamen im Laufe des 12. Jahrhunderts hinzu: der neue Hof (Niehof), der Hof in der Horst, der Hof Tideking und der Hof Vissing. Alle sind einander benachbart und liegen in der Nähe des Axtbachs. Tideking und Vissing weisen mit ihren Namen auf Teichwirtschaft und Fischerei hin. Der Ausbau dieser sechs Wirtschaftshöfe erfolgte wohl in der langen Amtszeit des Propstes Ermward, der namentlich erstmals 1146 und letztmals 1184 erscheint; 1188 heißt es, er sei verstorben. Bei seiner Wahl dürfte er sehr jung gewesen sein. Diese Kultivierungsleistung und die dadurch erzielten Einkünfte ermöglichten den Bau der 1175 geweihten Stiftskirche und in den folgenden Jahrzehnten auch den Bau neuer romanischer Kirchen in Lette und Beelen. So wurde aus „Cleholta“, Holz auf Klei (vgl. englisch: clay, Lehm), wie der Ort um 1088 in der älteren Heberolle des Kanonissenstiftes Herzebrock genannt wird, ein „clarus ortus“, ein leuchtender Garten. Diese symbolische Bezeichnung für Clarholz steht in einem Katalog aller Prämonstratenserklöster, der um 1270 im Skriptorium der Abtei Schäftlarn an der Isar aufgezeichnet wurde.
Epilog – Nachklang
Norbert war ein Suchender. Deshalb gab es Brüche in seinem Leben. Seine gut dotierte Stelle in Xanten gab er auf, weil er auf seine und seiner Zeitgenossen religiösen Sehnsüchte achtete. Als Wanderprediger begab er sich unter das einfache Volk und ließ sich dabei von der Aussendung der Apostel durch Jesus leiten. In der Vita A, cap. 6, heißt es: „Wenn nun das Volk in Scharen zu ihm strömte und bei der Feier der Messe seine Mahnworte hörte…, dann schöpften alle Freude aus seiner Gegenwart… Staunen erregte seine neue Art zu leben, nämlich auf Erden zu leben und nichts von der Erde zu wollen.“
Er fand Gefährten, mit denen er 1121 Prémontré als erneuerte urkirchliche Gemeinde gründete. Dabei war ihm die Notwendigkeit von Regeln bewusst. Er wählte die kurze, anpassungsfähige Regel Augustins, verzichtete aber auf die Fixierung von Gewohnheiten. Seinen Biographen zufolge verlangte er Eintracht und Einheit, aber keine Einförmigkeit. Er sah kein Problem darin, dass man in Prémontré ungebleichte Wollkleidung, in Magdeburg aber dunkel gefärbte Gewänder trug. Verkündigung des Evangeliums und gemeinsames Gebet sind der Kern seiner Spiritualität. Im Zentrum steht die Eucharistie, das „Brotbrechen“ nach dem Beispiel der Christen des Anfangs. Weil er die gesamte Kirche für eine Nachahmung der Lebensweise der Urkirche gewinnen wollte, nahm er 1126 das hohe Amt des Metropoliten von Magdeburg an, das er noch acht Jahre ausübte.
Norberts Beispiel ist heute, nach 900 Jahren, von brennender Aktualität. Papst Franziskus hat die pastorale Situation der Gegenwart, anknüpfend an das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,4-7), so beschrieben: Heute lässt der gute Hirt nicht die 99 Schafe auf der Weide weitergrasen und sucht das eine verlorene, sondern heute muss er das eine, übrig gebliebene Schaf verlassen und sich aufmachen, die 99 verlorenen zu suchen. Die meisten von denen, die das Vertrauen in die Kirche verloren haben, sind nicht zu Atheisten geworden, sondern zu Suchenden. Wahrscheinlich stellen sie den größten Teil der heutigen Katholikinnen und Katholiken in Mitteleuropa dar. Die Zukunft des Christentums liegt in unserer Fähigkeit als Kirche, mit ihnen zu kommunizieren. Es geht nicht darum, sie in die vorhandenen Strukturen, in den Schafstall zurückzudrängen, sondern den Raum der Kirche zu öffnen für ihre Erfahrungen als Suchende.
Von Norbert heißt es: „Staunen erregte seine neue Art zu leben, nämlich auf Erden zu leben und nichts von der Erde zu wollen.“ Für viele jüngere Zeitgenossen hängt das eigene Wohlbefinden nicht mehr am Besitz von Gütern, sondern an ihrem Gebrauch. Man kann einen Werkzeugkasten, ein Auto oder ein Ferienhaus mit mehreren zusammen benutzen, teilen. Durch „sharing economy“ können neue Formen von Gemeinschaft entstehen.
Verzicht auf persönlichen Besitz und Leben in Gemeinschaft entsprechen dem Charisma der Orden. Immer wieder gaben Klöster in der Vergangenheit Impulse für gesellschaftliche Veränderungen. Die Grundanliegen des heute anstehenden sozial ökologischen Wandels sind christlich. Es geht dabei, theologisch gesagt, um „Leben in Fülle“. Der ungebändigte Ressourcenverbrauch für Konsum und Reisen und der Verschwendungswahn im Sport haben keine Zukunft.
Papst Franziskus führt keinen Kampf gegen die Moderne wie manche Bischöfe in Polen und andern Orten. Vielmehr hebt er die Kernthemen des Evangeliums hervor: die Barmherzigkeit Gottes, Jesu Solidarität mit den Armen, unsere Verantwortung für die Umwelt, Entgegenkommen im Dialog mit anderen Kulturen und Religionen, Verständnis für Menschen in moralisch komplizierten Situationen.
Wenn wir uns bemühen, die Fragen zu verstehen, die sich die Leute um uns herum stellen, wenn wir den Glauben als einen Weg des Suchens präsentieren und den Mut aufbringen, uns mit den offenen Fragen des Lebens Gottes Geheimnis anzuvertrauen, dann hat das Christentum eine Zukunft. Die Prämonstratenser in Deutschland gehen diesen Weg.
Alle fünf heutigen Klöster der Prämonstratenser in unserem Land sind an der Seelsorge in den sie umgebenden Pfarreien beteiligt. Einzelne ihrer Mitglieder haben Dienste in der kategorialen Pastoral übernommen: in Schulen, in der Polizei- und Militärseelsorge, in der Wissenschaft, in der Kirchenmusik, in der Ökumene. Mit der Abtei Windberg ist eine Jugendbildungsstätte verbunden, mit dem Kloster Roggenburg ein Zentrum für Familie, Umwelt und Kultur, mit Speinshart in der Oberpfalz eine internationale Begegnungsstätte. Und in Magdeburg entstehen die Ökumenischen Höfe: zwei evangelische Gemeinden, eine katholische Pfarrei, die beiden konfessionellen Studentengemeinden und die St. Norbert-Stiftung werden dort in nachbarschaftlicher Verbundenheit mit dem Priorat der Prämonstratenser Wege christlichen Lebens gestalten.
Thomas Handgrätinger, von 2003 bis 2018 Generalabt des Ordens in Rom, zuvor Abt von Windberg, wo er heute als Emeritus wieder lebt, beschreibt das Profil der Prämonstratenser so: „In einer Zeit der Vereinzelung und Individualisierung leben wir in Gemeinschaft. In einer Zeit der rasenden Veränderungen und Mobilität betonen wir die „stabilitas in loco“ und die Ausprägung einer ‚Kirche vor Ort’. In einer Zeit der Verunsicherung und der postmodernen Beliebigkeit stehen wir auf dem Boden der urchristlichen Gemeinde, wo noch Glaubensgemeinschaft gelebt und die Lebensgemeinschaft geglaubt wird. In einer Zeit der ‚neuen Unübersichtlichkeiten’ orientieren wir uns am Ideal der ersten Christen.“

