Berufung

Jede Berufung geht aus dem liebevollen Blick hervor, mit dem der Herr uns begegnet ist

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Liebe Brüder und Schwestern!

Am 4. August letzten Jahres, dem 160. Todestag des heiligen Pfarrers von Ars, habe ich an die Priester, die jeden Tag ihr Leben für den Ruf des Herrn zum Dienst am Volk Gottes hingeben, einen Brief geschrieben.

Bei dieser Gelegenheit habe ich vier Schlüsselworte – Schmerz, Dankbarkeit, Lebensmut und Lobpreis – gewählt, um den Priestern zu danken und sie in ihrem Dienst zu stützen. Ich denke, an diesem 57. Weltgebetstag um geistliche Berufungen kann man diese Worte vor dem Hintergrund der Erzählung des Evangeliums von der besonderen Erfahrung, die Jesus und Petrus während eines nächtlichen Sturms auf dem See von Tiberias machen (vgl. Mt 14,22-33), aufgreifen und an das ganze Volk Gottes richten.

Nach der Brotvermehrung, die unter der Menge begeistertes Staunen hervorgerufen hatte, befahl Jesus den Seinen, ins Boot zu steigen und an das andere Ufer vorauszufahren. Inzwischen wollte er die Leute nach Hause schicken. Das Bild dieser Fahrt über den See erinnert in gewisser Weise an die Reise unseres Lebens: Das Boot unseres Lebens fährt langsam weiter, immer in Bewegung auf der Suche nach einer glücklichen Landung; es ist bereit, den Gefahren zu trotzen und die Chancen des Meeres zu ergreifen, möchte aber ebenso, dass der Steuermann es mit einer Wende schließlich auf den richtigen Kurs bringt. Zuweilen kann es hingegen vorkommen, dass das Boot sich verirrt, dass es sich von falschen Hoffnungen blenden lässt, anstatt dem hellen Leuchtturm zu folgen, der es zum sicheren Hafen führt, oder dass es den Gegenwinden der Schwierigkeiten, der Zweifel und der Ängste ausgesetzt ist.

So ist es auch im Herzen der Jünger der Fall. Nachdem sie gerufen wurden, dem Meister aus Nazaret zu folgen, müssen sie sich entscheiden, ans andere Ufer hinüberzufahren; sie müssen sich mutig dazu entschließen, die eigenen Sicherheiten aufzugeben und sich in die Nachfolge des Herrn zu begeben. Es ist dies kein friedliches Abenteuer: Die Nacht bricht herein, der Gegenwind bläst, das Boot wird von den Wellen hin- und hergeworfen, und die Angst, es nicht zu schaffen und dem Ruf nicht gewachsen zu sein, droht sie zu überwältigen.

Doch das Evangelium sagt uns, dass wir bei dem Abenteuer dieser nicht einfachen Fahrt nicht allein sind. Als würde er mitten in der Nacht gewissermaßen das Morgenrot heraufbeschwören, geht der Herr über das aufgewühlte Wasser zu den Jüngern. Er lädt Petrus ein, über die Wellen zu ihm zu kommen, und rettet ihn, als er ihn untergehen sieht. Schließlich steigt er ins Boot und lässt den Wind verstummen.

Das erste Wort der Berufung ist also Dankbarkeit. Den richtigen Kurs zu halten ist nicht eine Aufgabe, die nur unseren Kräften anvertraut ist, noch hängt es allein von den von uns gewählten Wegen ab. Die Verwirklichung unserer selbst und unserer Lebenspläne ist nicht das mathematische Ergebnis dessen, was wir in einem abgeschotteten „Ich“ beschlossen haben; vielmehr handelt es sich zuallererst um die Antwort auf einen Ruf, der von oben an uns ergeht. Der Herr nämlich zeigt uns das Ufer, an das wir fahren sollen, und schenkt uns zuvor den Mut, ins Boot zu steigen; während er uns ruft, macht er sich schon zu unserem Steuermann, um uns zu begleiten, um uns die Richtung zu weisen, um zu verhindern, dass wir an den Klippen der Unentschlossenheit stranden, und um uns zu befähigen, sogar über das aufgewühlte Wasser zu gehen.

Jede Berufung geht aus dem liebevollen Blick hervor, mit dem der Herr uns begegnet ist, vielleicht eben als unser Boot vom Sturm gebeutelt wurde. Sie ist »nicht so sehr unsere Entscheidung als vielmehr eine Antwort auf einen ungeschuldeten Ruf des Herrn« (Brief an die Priester, 4. August 2019). Daher werden wir seinen Ruf entdecken und annehmen können, wenn sich unser Herz der Dankbarkeit öffnet und den Augenblick zu ergreifen vermag, da Gott in unserem Leben vorbeigeht.

Als die Jünger Jesus über das Wasser näherkommen sehen, meinen sie zunächst, es handle sich um ein Gespenst, und haben Angst. Doch Jesus beruhigt sie sofort mit einem Wort, das unser Leben und unseren Berufungsweg immer begleiten muss: »Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht!« (V. 27). Das eben ist das zweite Wort, das ich euch mitgeben will: Mut.

Was uns oft daran hindert, zu gehen, zu wachsen und den Weg einzuschlagen, den der Herr für uns vorgezeichnet hat, sind die Gespenster, die in unserem Herzen herumgeistern. Wenn wir gerufen sind, unser sicheres Ufer aufzugeben und in unserem Leben einen Stand – wie die Ehe, das Weihepriestertum, das geweihte Leben – zu ergreifen, dann zeigt sich die erste Reaktion häufig in der Gestalt des „Gespenstes der Ungläubigkeit“: Dies kann unmöglich meine Berufung sein; handelt es sich wirklich um den richtigen Weg? Verlangt der Herr das im Ernst von mir?

Und nach und nach nehmen in uns die Überlegungen, Rechtfertigungen und Berechnungen zu, die uns den Schwung rauben, uns verwirren und uns wie gelähmt am Abfahrtsufer zurücklassen: Wir meinen, einen Bock geschossen zu haben, nicht auf der Höhe zu sein oder einfach ein Gespenst gesehen zu haben, das man verscheuchen muss.

Der Herr weiß, dass eine grundsätzliche Lebensentscheidung – wie die Entscheidung, zu heiraten oder sich auf besondere Weise dem Dienst des Herrn zu weihen – Mut verlangt. Er kennt die Fragen, die Zweifel und die Schwierigkeiten, die das Boot unseres Herzens schütteln. Daher beruhigt er uns: „Hab keine Angst, ich bin bei dir!“ Der Glaube an seine Gegenwart, dass er uns entgegenkommt und uns begleitet, selbst wenn das Meer vom Sturm gepeitscht wird, befreit uns von der Trägheit (acedia), die ich einmal als »süßliche Traurigkeit« (Brief an die Priester, 4. August 2019) bezeichnet habe, also von der inneren Mutlosigkeit, die uns lähmt und die Schönheit der Berufung nicht auskosten lässt.

Im Brief an die Priestehabe ich auch vom Schmerz gesprochen. Hier aber möchte ich dieses Wort anders wiedergeben und mich auf die Mühe beziehen. Jede Berufung verlangt Einsatz. Der Herr ruft uns, weil er uns wie Petrus dazu befähigen will, „über das Wasser zu gehen“, das heißt unser Leben in die Hand zu nehmen, um es in den Dienst für das Evangelium zu stellen, und zwar Tag für Tag auf die konkreten Weisen, die er uns zeigt, insbesondere in den verschiedenen Formen der Berufung als gläubige Laien, Priester oder Personen des geweihten Lebens. Wir sind jedoch dem Apostel ähnlich: Wir haben den Wunsch und den Schwung, sind aber zugleich von Schwächen und Ängsten geprägt.

Wenn wir uns von dem Gedanken, welche Verantwortung uns – im Eheleben oder im priesterlichen Dienst – erwartet oder welche Widrigkeiten auftreten werden, überwältigen lassen, dann werden wir schnell den Blick von Jesus abwenden und wie Petrus unterzugehen drohen. Doch selbst in unserer Schwachheit und Armut erlaubt uns der Glaube, dem auferstandenen Herrn entgegenzugehen und sogar Stürme zu überwinden. Er reicht uns nämlich die Hand, wenn wir aus Müdigkeit oder Angst unterzugehen drohen, und verleiht uns den nötigen Schwung, um unsere Berufung voll Freude und Begeisterung zu leben.

Als Jesus ins Boot steigt, legt sich schließlich der Wind und lassen die Wellen nach. Dies ist ein schönes Bild dafür, was der Herr in unserem Leben und in den Tumulten der Geschichte wirkt, vor allem wenn wir uns im Sturm befinden: Der Herr befiehlt den widrigen Winden zu schweigen, und die Kräfte des Bösen, der Angst, der Resignation haben keine Macht mehr über uns.

In der besonderen Berufung, die wir leben sollen, können uns diese Winde völlig erschöpfen. Ich denke an alle, die wichtige Aufgaben in der Zivilgesellschaft übernehmen, ich denke an die Eheleute, die ich nicht umsonst gerne als „mutig“ bezeichne, und insbesondere an alle, die das geweihte Leben und das Priestertum ergriffen haben. Ich kenne eure Mühe, eure Einsamkeit, die manchmal das Herz schwermacht, die Gefahr der Gewohnheit, die allmählich das brennende Feuer des Rufes auslöscht, die Last der Unsicherheit und der prekären Situation unserer Zeit, die Sorge um die Zukunft. Nur Mut, habt keine Angst! Jesus ist an unserer Seite. Wenn wir ihn als den einzigen Herrn unseres Lebens erkennen, streckt er uns die Hand entgegen und packt uns, um uns zu retten.

Und dann öffnet sich unser Leben selbst inmitten der Wellen dem Lobpreis. Das ist das letzte Wort der Berufung und möchte zudem eine Einladung sein, die innere Haltung der seligen Jungfrau Maria einzunehmen: Dankbar für den Blick, mit dem Gott auf sie geschaut hat, hat sie ihm im Glauben alle Angst und Unruhe übergeben und mutig den Ruf angenommen – so machte sie ihr Leben zu einem ewigen Lobgesang des Herrn.

Liebe Brüder und Schwestern, ich möchte, dass die Kirche besonders am Weltgebetstag, aber ebenso in der gewöhnlichen pastoralen Tätigkeit unserer Gemeinden, diesen Weg im Dienst an den Berufungen geht und dafür die Herzen aller Gläubigen gewinnt. Denn so kann jeder dankbar den Ruf entdecken, den der Herr an ihn richtet, als auch den Mut finden, „Ja“ zu sagen, und im Glauben an Christus die Mühe überwinden und schließlich das eigene Leben als Lobgesang für Gott, für die Brüder und Schwestern sowie für die ganze Welt darbringen. Die Jungfrau Maria begleite uns dabei und sei uns Fürsprecherin.

Gegeben zu Rom, bei St. Johannes im Lateran, am 8. März 2020, zweiter Fastensonntag.

 

FRANZISKUS

 
 

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