„Ich selbst aber sammle den Rest meiner Schafe“
An diesem 16. Sonntag im Jahreskreis steht in der Liturgie die Gestalt des Hirten im Mittelpunkt. Die erste Lesung ist nach der göttlichen Zurechtweisung an die Könige von Juda (Jer 21,11-23,30) eingerahmt und wird von der Verheißung eines neuen Exodus, d. h. der Rückkehr in die Heimat, gefolgt (Jer 23,7-8). Daher enthält Jer 23,1-6 beide Elemente: Zurechtweisung und Verheißung. So heißt es in Jer 23,1-2: „Weh den Hirten, die die Schafe meiner Weide zugrunde richten und zerstreuen – Spruch des HERRN. 2 Darum – so spricht der HERR, der Gott Israels, über die Hirten, die mein Volk weiden: Ihr habt meine Schafe zerstreut und sie versprengt und habt euch nicht um sie gekümmert. Jetzt kümmere ich mich bei euch um die Bosheit eurer Taten – Spruch des HERRN.“. Während die guten Hirten die Schafe sammeln, beschützen und versorgen, verlieren, zerstreuen und vertreiben die Könige von Juda sie durch ihr böses Handeln. Dies ist die entgegengesetzte Bewegung, die im Exil gipfeln wird, was der Verlust der Heimat und des Gottesdienstes, die Vertreibung aus dem eigenen Land und die Zerstreuung ist. Nachdem er sich an die schlechten Hirten gewandt hat, macht der Herr eine Verheißung, die sich in drei Teile gliedern lässt: im ersten Teil stellt sich Gott als der Hirte vor; im zweiten Teil verspricht der Herr, gute Hirten für sein Volk einzusetzen; im dritten Teil verspricht der Herr einen Nachkommen Davids.
„Während die guten Hirten die Schafe sammeln, beschützen und versorgen, verlieren, zerstreuen und vertreiben die Könige von Juda sie durch ihr böses Handeln.“
Da die Bewegung, die das Volk erlebte, von der Einheit zur Zerstreuung war, beginnt die göttliche Verheißung genau mit der Rückkehr: „Ich selbst aber sammle den Rest meiner Schafe aus allen Ländern, wohin ich sie versprengt habe. Ich bringe sie zurück auf ihre Weide und sie werden fruchtbar sein und sich vermehren.“ (Jer 23,2-3). Einige Elemente sind wichtig zu beachten: Der Herr stellt sich als der Hirte vor, sagt, dass die Schafe sein Eigentum sind und erklärt, dass er selbst sie zerstreut hat (הִדַּ֥חְתִּי). Was bedeutet das? Der erste Teil der göttlichen Worte macht deutlich, dass das Exil die Frucht der Sünde der bösen Hirten ist; aber indem er sagt: „Ich selbst aber sammle den Rest meiner Schafe aus allen Ländern, wohin ich sie versprengt habe.“, erklärt der Herr seine Herrschaft über die Geschichte und bekräftigt, dass selbst die Sünde der Hirten nun in seiner Vorsehung angenommen (nicht gelobt oder als gut anerkannt) ist. Mit anderen Worten: Letztlich ist Gott der oberste Hirte, dessen Abbild die Hirten Israels sein sollten, der die Verantwortung für seine Schafe übernimmt.
Hier beginnt dann der zweite Teil der Prophezeiung: „Ich werde für sie Hirten erwecken, die sie weiden, und sie werden sich nicht mehr fürchten und ängstigen und nicht mehr verloren gehen – Spruch des HERRN“. Die prägnante Formel des hebräischen Textes ist sehr bezeichnend, wenn es darum geht, die Rolle der neuen Hirten zu erklären: „Ich werde für sie Hirten erwecken, die sie weiden“. Der göttliche Befehl ist nachdrücklich und prangert noch einmal die falschen Hirten an.
„Ich werde für sie Hirten erwecken, die sie weiden, und sie werden sich nicht mehr fürchten und ängstigen und nicht mehr verloren gehen“
Und hier kommen wir zum dritten Teil der göttlichen Verheißungen, der auf den Messias, einen Nachkommen Davids, hinweist: „Siehe, Tage kommen – Spruch des HERRN – , da werde ich für David einen gerechten Spross erwecken. Er wird als König herrschen und weise handeln und Recht und Gerechtigkeit üben im Land.“ (Jer 23,5a). Bevor wir diesen dritten Teil kommentieren, ist es angebracht, zwei philologische Klarstellungen vorzunehmen: In dieser Passage haben wir die starke Präsenz der Wurzel צדק (= Gerechtigkeit, Recht, Verdienst, Legitimität) und wir haben die Präsenz des Begriffs צֶמַח (= seme, Spross), der innerhalb der prophetischen Literatur eine starke messianische Bedeutung hat. Siehe, unser Text ist durchdrungen von messianischer Konnotation, denn Gott wird einen Spross (צֶמַח) aus David hervorbringen, der als rechtmäßiger König herrschen wird. Das heißt, der Herr wird Hirten hervorbringen (V. 4), entwirft aber für die Zukunft einen noch größeren Eingriff, indem er einen legitimen Nachkommen Davids hervorbringt, der der Messias sein wird.
Hier ist die Beschreibung seines Handelns: „Er wird als König herrschen und weise handeln und Recht und Gerechtigkeit üben im Land. 6 In seinen Tagen wird Juda gerettet werden, Israel kann in Sicherheit wohnen. Man wird ihm den Namen geben: Der HERR ist unsere Gerechtigkeit.“ (Jer 23,5-6). Es ist erwähnenswert, dass sein Handeln nicht auf das Land Israel beschränkt ist, sondern auf die ganze Erde. Außerdem wird er im Namen Israels und Judas handeln, als ob er auf die zukünftige Einheit unter seiner Herrschaft hinweisen wollte. Auch sein Name ist sehr bedeutsam: „Herr, unsere Gerechtigkeit“. Auf Hebräisch gelesen, verstehen wir die Kraft dieses Namens: Jhwh ist der intime, nicht ausgesprochene Name Gottes, den Israel für das Fest der Sündenvergebung, Jom Kippur, reservierte. Gerechtigkeit (צדק) wiederum ist ein Begriff, der gleichbedeutend mit Erlösung ist. Wir können zusammenfassend sagen, dass dieser Messias als Hirte nicht nur von Gott auferweckt wird, sondern dass sein Name (der seine Identität ist) seine besondere Teilhabe an der göttlichen Welt bezeichnet, innerhalb einer die ganze Erde umfassenden Heilsmission.
„Der HERR ist unsere Gerechtigkeit“
In Psalm 23 finden wir den Psalmisten, der Gott als seinen Hirten anerkennt: „Der HERR ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen.“ (Ps 23,1). Der göttliche Hirte führt ihn in Zeiten der Ruhe und der Schwierigkeiten: „Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. 3 Meine Lebenskraft bringt er zurück. Er führt mich auf Pfaden der Gerechtigkeit, getreu seinem Namen.“ (Ps 23,2-3). In V. 4 kommen wir zum Herzstück des Psalms: „Auch wenn ich gehe im finsteren Tal, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab, sie trösten mich.“. In diesem Vers finden wir die zentralen Worte des Psalms: „denn du bist mit mir“. Vor diesen drei Wörtern (im hebräischen Text) gibt es 26; und nach ihnen weitere 26 Wörter (immer im hebräischen Text).
Das Zentrum von Psalm 23 ist die Gewissheit, dass der Gott-Hirte denjenigen nicht verlässt, der an ihn glaubt. So schließen wir das Lesegebet des Psalms: „Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde. Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, übervoll ist mein Becher. 6 Ja, Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang und heimkehren werde ich ins Haus des HERRN für lange Zeiten.“ (Ps 23,5-6). Diese Verse offenbaren nicht nur einen Hirten, der beschützt, sondern auch demjenigen dient, der an ihn glaubt: Gott bereitet ihm ein Festmahl und salbt ihn. Die letzten Verse geben dem Psalm ein sehr interessantes Ende, das auch eine Art hermeneutischer Schlüssel ist; das heißt, die göttliche Begleitung und der Schutz auf dem ganzen Weg, zu dem auch das Ausruhen und die Durchquerung eines dunklen Tals gehörten, hatten ein Ziel: die Gläubigen zum Tempel, zur Gemeinschaft mit Gott zu bringen. Auf diese Weise wird der Psalm zu einer Metapher für das Leben des Glaubens selbst.
„Diese Verse offenbaren nicht nur einen Hirten, der beschützt, sondern auch demjenigen dient, der an ihn glaubt“
In der zweiten Lesung und im Evangelium des heutigen Tages finden wir die Erfüllung der göttlichen Verheißungen, die im Buch Jeremia angekündigt werden. Paulus verkündet der Gemeinde von Ephesus das Wirken Christi, das sich wie folgt zusammenfassen lässt: göttliches Heil, bewirkt durch einen Nachkommen Davids, das darin besteht, die einst Zerstreuten in sich selbst zu vereinen und so ein einziges Volk zu bilden, in der Einheit des Glaubens an den Sohn Gottes. Der Text sagt: „Jetzt aber seid ihr, die ihr einst in der Ferne wart, in Christus Jesus, nämlich durch sein Blut, in die Nähe gekommen. 14 Denn er ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile und riss die trennende Wand der Feindschaft in seinem Fleisch nieder. 15 Er hob das Gesetz mit seinen Geboten und Forderungen auf, um die zwei in sich zu einem neuen Menschen zu machen. Er stiftete Frieden 16 und versöhnte die beiden durch das Kreuz mit Gott in einem einzigen Leib. Er hat in seiner Person die Feindschaft getötet.“ (Eph 2,13-16).
Es ist bemerkenswert, dass in diesem Abschnitt das Wort „Friede“ viermal vorkommt, als wolle es sagen, dass mit diesem Begriff das Heilshandeln Christi gemeint ist: die Verkündigung des Friedens. Sein hebräisches Substrat, Shalom, hat einen breiten semantischen Wert; dennoch können wir sagen, dass Versöhnung in der DNA dieses Begriffs liegt. Deshalb trägt shalom effektiv dazu bei, das Heilswerk Christi zu definieren. Der Text geht weiter: „Er kam und verkündete den Frieden: euch, den Fernen, und Frieden den Nahen. 18 Denn durch ihn haben wir beide in dem einen Geist Zugang zum Vater.“ (Eph 2,17-18). Der Zugang zum Vater, zu Gott, ist durch Christus jedem Menschen, ob Jude oder Grieche, gegeben; das heißt, die ganze Erde steht, wie Jeremia angekündigt hat, unter der rettenden Macht Christi. Es liegt an denen, die glauben, zu verkünden, und an jedem Menschen, an den zu glauben, der alle göttlichen Verheißungen erfüllt hat: Jesus Christus.
„dennoch können wir sagen, dass Versöhnung in der DNA dieses Begriffs (Friede) liegt.“
Im heutigen Evangelium finden wir uns nach der Rückkehr der Jünger von ihrer Mission wieder. Sie „versammelten sich wieder bei Jesus und berichteten ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten.“ (Mk 6,30). Jesus ist berührt von der Müdigkeit der Jünger und lädt sie ein: „Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus! Denn sie fanden nicht einmal Zeit zum Essen, so zahlreich waren die Leute, die kamen und gingen. 32 Sie fuhren also mit dem Boot in eine einsame Gegend, um allein zu sein.“ (Mk 6,31-32). Es kommt aber vor, dass Menschen durch seine Lehre, durch seine Wunder, durch seine Person zu Christus hingezogen werden. „Aber man sah sie abfahren und viele erfuhren davon; sie liefen zu Fuß aus allen Städten dorthin und kamen noch vor ihnen an. 34 Als er ausstieg, sah er die vielen Menschen und hatte Mitleid mit ihnen; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.“ (Mk 6,33-34). Jesus ist aufmerksam gegenüber seinen Jüngern, aber auch gegenüber allen Menschen, die ihm entgegenkommen. Die innere Bewegung Jesu Christi ist der perfekte Ausdruck der göttlichen Bewegung, von der Jeremia erzählt: Als er sieht, dass dieses Volk keinen Hirten hat und verloren ist, ergreift Gott die Initiative und bekräftigt die Wahrheit, dass er der Hirte Israels ist. Das Bewegen des Mitleids (V. 34), vom griechischen Verb σπλαγχνίζομαι, entspricht den Eingeweiden, wie auch der hebräische Begriff rahamim. Es ist eine innere Bewegung wie die einer Mutter, die, wenn sie ihren Sohn in Schwierigkeiten sieht, das Gefühl hat, er sei noch in ihr selbst.
Der Evangelist Markus schildert damit die Erfüllung der göttlichen Verheißung: Jesus Christus ist der oberste Hirte, den der Vater in seiner Barmherzigkeit den davidischen Nachkommen für eine universale Mission versprochen hat. Er ist der höchste Ausdruck des göttlichen Mitgefühls. Machen wir es wie diese Menschenmenge: Nähern wir uns Jesus und stellen wir uns ihm zur Verfügung, damit er als der gute Hirte uns zu Hilfe kommt und uns hilft, indem er uns die Gnade eines tiefen Glaubens, einer sicheren Hoffnung und einer festen Nächstenliebe schenkt. Stellen wir ihm unser tägliches Leben vor, unsere Schwierigkeiten, unsere Schmerzen, unsere Freuden. Der Gute Hirte sieht in unsere Herzen, er kennt uns und ist von Mitgefühl für uns bewegt. Amen!
Elton Alves, Missionar der Lebensgemeinschaft der Kath. Gemeinschaft Shalom, Verheiratet, Theologe und promovierender in der Theologischen Fakultät in Lugano, Schweiz